Dieses Etikett wird dem einst in einer breiten Öffentlichkeit hochgeschätzten, von seinen Schülern verehrten, vielfach ausgezeichneten Mediävisten und Landeshistoriker
inzwischen im Internet angeheftet. Und Bosls Geburtsstadt Cham hat in Reaktion auf ein Buch und einige Zeitungsartikel einen überstürzten „Denkmalsturz“ vorgenommen. Nicht nur die Büste des einstigen Ehrenbürgers wurde aus dem Rathaussaal entfernt, sondern auch die Benennung eines Platzes getilgt. Mit dieser „Damnatio memoriae“ hat die Stadt ihren großen Sohn, in dessen Ruhm sie sich einst gerne gesonnt hat, beim ersten Schatten, der auf einen Teil dieses Lebens fiel, voreilig preisgegeben.
Natürlich hat diese posthume Demontage einer Persönlichkeit und die daraus resultierende gezielte Zerstörung ihrer Lebensleistung eine Vorgeschichte, bei deren Betrachtung man sich des Eindrucks einer kampagnenartigen Inszenierung nicht erwehren kann und bei der es weniger auf Verstehen oder gar auf Wahrheitsfindung ankam als auf Diskriminierung und Verurteilung.
Die Jahre zwischen 1930 und 1949
Karl Bosl, geboren 1908 in Cham als Kind kleiner Leute, kam nach dem neunjährigen sehr erfolgreichen Besuch des Gymnasiums in Metten 1927 zum Lehramtsstudium an die Universität nach München. In der Mindestzeit von acht Semestern absolvierte er das Studium von immerhin vier Fächern – Deutsch, Geschichte, Griechisch und Latein -, schloss mit dem Staatsexamen ab und war bereits ab 1932 als Lehramtsassessor tätig. In dieser Zeit belegte er bei Karl Alexander von Müller, dem ebenso einflussreichen wie opportunistischen Landeshistoriker, Vorlesungen und geriet damit wohl auch in den deutschnationalen Dunstkreis, der ihn vermutlich 1930 zum paramilitärischen Wehrverband „Stahlhelm“ führte. Und obwohl er in einem Zeitzeugengespräch 1990 noch betonte, er habe 1928/29/30 als Mitglied des Allgemeinen-Studenten-Ausschusses der Universität und als katholischer Verbindungsstudent gemeinsam mit dem Anführer des Sozialistischen Studentenbundes gegen die Nazis Holzscheitel geworfen, trat er bereits im Mai 1933 der NSDAP, dem NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund) und der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) bei und übte in der Folgezeit auch Funktionen im „Bund deutscher Osten“ und im „Reichskolonialbund“ aus . Die Mitgliedschaft bei der SA resultierte möglicherweise aus der Überführung der Mitglieder des „Stahlhelm“ in diese NS-Organisation. Ohne Frage hatte sich Bosl, der nach dem überraschenden Tod Michael Doeberls Karl Alexander von Müller zum Doktorvater wählte, schnell angepasst und befand sich so ganz im Gefolge seines Lehrers, der als bis dahin„ angesehener Exponent des gehobenen Münchner Bildungsbürgertums und Wissenschaftslebens“ (Kramer S. 365) nun zum Nationalsozialismus überging und in den Folgejahren Karriere machte. Bosl, der schon 1934 wegen mangelnder Aktivität wieder aus der NSDAP ausgeschlossen wurde und auch mit dem NSLB wegen fehlender Beitragszahlungen Schwierigkeiten hatte, unterrichtete in diesen Jahren an wechselnden Gymnasien in Bayern und widmete sich gleichzeitig in vielen langen Nächten seiner Dissertation über das Nordgaukloster Kastl, mit der er 1938 schließlich mit „summa cum laude“ promoviert wurde. Sein Lebensziel war, wie auch seine späteren Aussagen bestätigen, eine wissenschaftliche Laufbahn, für die er allerdings auch problematische Kompromisse einzugehen bereit war. In einem Schreiben vom 13. September 1938 zählte er alle seine „Leistungen“ für das NS-System auf, um einen Forschungsauftrag und vor allem den begehrten finanziellen Zuschuss zu erhalten. Wenig später forschte er, mit 120 Reichsmark monatlich dotiert, im Rahmen der SS-Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ in dem Projekt „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“, wobei sein Beitrag „Die Lehns- und Holzrechte im Berchtesgadener Land“ trotz der ideologischen Rahmenbedingungen wissenschaftlich solid war.
Als 1938 die Verbeamtung anstand, reaktivierte Bosl seine Mitgliedschaften in der NSDAP und im NSLB und erhielt auch die erforderliche Bestätigung für seine Linientreue. Dass er aber im Gegensatz zu den Angaben in einem zweckorientierten Schreiben eher distanziert zum System stand, weder Parteiabzeichen noch Uniform trug und auch im Unterricht keinerlei ideologische Einstellung zeigte, bestätigen ehemalige Lehrerkollegen und Schüler einhellig. Im Zentrum seiner Strebens auch in den folgenden Jahren stand die wissenschaftliche Karriere, die er durch immensen Fleiß ebenso wie durch angepasstes Verhalten vorantrieb. Er verdiente sich Sporen innerhalb der linientreuen deutschen Mediävistik, nahm an einschlägigen Tagungen teil, hielt Vorträge auch im Rahmen des „Kriegseinsatzes deutscher Mediävisten“ und forschte zu Heinrich III., den das Regime angeblich aus den Geschichtsbüchern gestrichen hatte. Vor allem aber beschäftigte er sich mit der Ministerialität der Salier und Staufer und habilitierte sich mit diesem Thema im Jahre 1944. Den Titel Dr. phil. habil. erhielt er zwar noch verliehen, die Ernennung zum Privatdozenten kam aber aufgrund der Kriegswirren nicht mehr zustande oder ist, wie Karl Bosl später behauptete, durch einen besonders systemkonformen Historikerkollegen verhindert worden. In der Schlussphase des Dritten Reiches war Bosl als Gymnasiallehrer in Ansbach tätig und gehörte, wie mehrere Schüler und Lehrer bezeugen, einem Kreis von engagierten Gegnern des Regimes an. Welchen konkreten Beitrag er im einzelnen zu den Widerstandsaktivitäten in Ansbach leistete, wird sich kaum mehr feststellen lassen. Jedenfalls steht durch glaubwürdige Aussagen untermauert fest, dass Bosl auch eine enge Verbindung zu einem seiner Schüler, Robert Limpert, hatte, der mit Flugblättern und Plakaten gegen das Regime kämpfte und wegen des Durchschneidens eines Telefonkabels noch wenige Stunden vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen hingerichtet wurde. Auf Wunsch der Angehörigen hat Bosl die Grabrede für Limpert gehalten und sich auch später um das Gedenken für seinen Schüler gekümmert. Bei der Entnazifizierung wurde er zunächst als Mitläufer, nach seinem Einspruch im März 1948 als Entlasteter eingestuft. Von besonderem Gewicht waren dabei die Aussagen des Kunstlehrers am Gymnasium, Heinrich Pospiech, und des amerikanischen Corporals Frank Dominik Horvay, die neben anderen Zeugen beide eine Mitwirkung Bosls beim Widerstand des Robert Limpert bezeugten. Horvay schreibt sogar in einem Brief vom 16. September 1945, Bosl sei ein Jahr im KZ gewesen und habe danach drei Jahre in einer Spezialeinheit gedient, bis er schwer verwundet und dann entlassen worden sei. (Kedar/Herde S. 97) Obwohl diese Aussage weder durch schriftliche noch durch mündliche Zeugnisse zu belegen ist, bleibt die Frage offen, wie Horvay zu dieser Annahme kam. Trotz einer berechtigten Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit von Entnazifizierungsakten ist doch festzuhalten, dass die Spruchkammer Bosl bestätigte, „dass er mit Recht den Nachweis der aktiven Gegnerschaft sowie des dadurch erlittenen Schaden erfüllt hat. Der Genannte war trotz seiner Formalbelastung, des Parteieintritts den er unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse vollzogen hat von Anfang an Gegner des Nationalsozialismus … Oberstudiendirektor Oskar Griebel bescheinigt, dass der Genannte nur als junger Lehrer durch den Druck der wirtschaftlich beengten Verhältnisse der Partei beigetreten ist und dass seine Betätigung bei der Ansbacher Widerstandsbewegung bekannt war. Er bezeichnet Dr. Bosl mit gutem Gewissen als Antifaschisten. ….“ (Kedar/Herde S. 131f.) Im Jahre 1949 wurde Karl Bosl nach einem erneuten Habilitationsvortrag zum Privatdozenten an der Ludwig-Maximilians-Universität München ernannt. Daneben war er als Studienrat am Münchner Max-Gymnasium und später am Theresien-Gymnasium tätig. Insgesamt bleibt für den Zeitraum zwischen1930 und 1949 festzustellen: Karl Bosl hat sich angepasst und opportunistisch verhalten, um seiner schulischen Laufbahn, vor allem aber um seiner wissenschaftlichen Karriere willen, und er hat durch Verschweigen und gewisse Akzentverschiebungen seine Biografie in späteren Jahren geschönt. Damit war er ein Historiker im Nationalsozialismus mit all den Abhängigkeiten und Konzessionen, die das Regime verlangte. Er ist aber kein Täter gewesen, der Rassen- oder Raumprogramme ideologisch grundgelegt und propagiert hat wie zum Teil andere, später hoch bedeutende Fachkollegen. Daher musste er seine wissenschaftlichen Arbeiten dieser Jahre nur geringfügig revidieren, etwa den Begriff „rassisch“ an einer Stelle streichen oder eine Anmerkung tilgen, in der eine Festschrift für Heinrich Himmler zitiert war. Und auch der Studienrat Bosl hat sich nicht als brauner Verführer betätigt, sondern distanziert zum Regime und sachbezogen unterrichtet.
Etappen eines „Denkmalsturzes“
Wie also kam es zu diesem „Denkmalsturz“, der den nüchternen Betrachter fassungslos macht und viele der Schüler Bosls erbittert? Voll des Lobes waren die Festschriften 1973 und 1988, Hymnen wurden geradezu beim 80. und 85. Geburtstag gesungen und auch die zahlreichen Nachrufe 1993/94 priesen den großen Mediävisten und Landeshistoriker. Mit einer Bibliografie und dem Abdruck eines 1990 geführten Zeitzeugengespräch bemühte sich das Haus der Bayerischen Geschichte, das Andenken Bosls, der auch engagiert um diese Einrichtung gekämpft und bis zuletzt ihrem Beirat angehört hatte, angemessen zu bewahren. Zwei Jahre später, 1998, berichtete Ferdinand Kramer, einer der Nachfolger Bosls auf dem Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte, in einem sachlich-nüchternen Beitrag für die Jubiläumsschrift von Institut und Kommission erstmals über Bosls Mitgliedschaften in der NSDAP und anderen NS-Organisationen. Diese unbestreitbaren, auf klare Fakten gestützten Aussagen lösten bei manchen seiner Schüler größte Überraschung und tiefe Enttäuschung aus, weil der Widerspruch zu Aussagen ihres Lehrers, seiner betonten Liberalität und seinem hohen moralischen Anspruch an den Historiker unüberbrückbar schien. Die Untersuchung von Anne Christiane Nagel zur westdeutschen Mittelalterforschung zwischen 1945 und 1970 widmete sich ebenfalls Bosls Leben und Werk während der NS-Zeit und stellte ihn als engagierten Nationalsozialisten dar: „Als Parteimitglied der ersten Stunde, Mitglied der SA und Leiter verschiedener nationalpolitischer Schulungslager setzte er sich vielmehr ausgesprochen aktiv für die Ziele des Nationalsozialismus ein. … Begeisterter Gymnasiallehrer, … , spielte er eine maßgebliche Rolle im Nationalsozialistischen Lehrerbund.“(Nagel S. 137) Noch schärfer war das Urteil in einem Aufsatz, den der Würzburger Mittelalterhistoriker Peter Herde 2007 in den Würzburger Diözesangeschichtsblättern veröffentlichte. Der Beitrag trug so deutliche Züge einer persönlichen Abrechnung, dass die Vorwürfe zunächst keinen Weg in weitere Fachorgane fanden. Herde spitzte deutlich zu, konstruierte eine stringente NS-Karriere und setzte Bosl mit einer Vielzahl von pejorativen Bemerkungen und diffamierenden Vermutungen in jeder nur erdenklichen Weise herab. Dabei stützte er sich auch auf ein Gespräch, das der israelische Historiker Benjamin Z. Kedar wohl 1986 mit Karl Bosl geführt hatte, das aber zu diesem Zeitpunkt weder veröffentlicht noch dem Inhalt nach bekannt war. Im Jahre 2010 wurde im Internet eine bizarre Attacke gegen den früheren Direktor des Zentrums für Antisemitismus-Forschung, Wolfgang Benz, gestartet, in deren Verlauf Karl Bosl nun endgültig zum „Nazi-Professor“ erklärt wurde. In einer Art wissenschaftlicher Sippenhaftung wurde Benz, der es gewagt hatte Antisemitismus und Islamophobie strukturell zu vergleichen, nun als Schüler eines Nazis diffamiert, wobei die gezielte Auswahl aller belastenden Zeugnisse und eine entsprechende Bewertung zum gewünschten Ergebnis führen sollte. (Clemens Heni: Ein Nazi und sein Schüler: Karl Bosl und Wolfgang Benz, in: http.//clemensheni.wordpress.com/2010/01/15/455) Angesichts dieser Brandmarkung ist der sachliche Beitrag von Matthias Berg aus dem Jahre 2011 geradezu wohltuend, weil er alle wesentliche Fakten der „Lehrjahre“ Bosls berücksichtigt und völlig emotionslos in das Umfeld Karl Alexander von Müllers einordnet, über den Berg seine Dissertation anfertigt. Stark gewichtet er die Mitwirkung Bosls beim Forschungsprojekt des SS-Ahnenerbes, wobei die Frage nach dem Stellenwert dieses vor allem aus finanziellen Gründen attraktiven Forschungsauftrags im wissenschaftlichen Gesamtwerk Bosls doch zu stellen wäre. Zum eigentlicher Auslöser des „Denkmalsturzes“ aber wurde das englischsprachige, mit einem reichen Quellenanhang ausgestattete Buch von Benjamin Z. Kedar und Peter Herde – beide wohl als Spezialisten für Kreuzzugsforschung und durch ihre Aversion gegen Karl Bosl verbunden -, das 2011 in Jerusalem erschien. Schon der Titel signalisiert eine eindeutige These: „A Bavarian Historian Reinvents Himself: Karl Bosl and the Third Reich“. Das mit roter Farbe verfremdete Titelbild suggeriert überdies eine augenzwinkernde, fast verschwörerische Komplizenschaft zwischen dem Kunstlehrer Pospiech, dem amerikanischen Corporal Horvay und Bosl, eine Unterstellung, mit der sowohl die Widerstandsaktivitäten als auch die Entlastung im Entnazifizierungsverfahren als üble Täuschungsmanöver charakterisiert werden. Bosl habe, so wird nun behauptet, eine Widerstandslegende erfunden und damit alle getäuscht, um seine Karriere ohne Unterbrechung fortzusetzen. Nach dieser Darstellung war er „chameleon-like“ von der Nazizeit in die Nachkriegszeit übergewechselt und hatte sich eine passende Biografie zugelegt, sich neu erfunden. Zahlreiche Quellen, die in dem Band abgedruckt sind, widersprechen allerdings diesem eindeutigen Befund, wenn man sie vorurteilslos liest und nicht gegen den Strich bürstet. Ein besonderes Problem stellt das auf Seite 134 – 150 wiedergegebene Gespräch dar, das Kedar nach seinen Angaben1986 mit Karl Bosl geführt hat. „Transcript of recording“ findet sich als einzige Angabe zu den Rahmenbedingungen. Ob die Veröffentlichung der Aufnahme autorisiert war und warum zwischen Gespräch und Publikation 25 Jahre liegen, bleibt ungeklärt. Jedenfalls ist eine quellenkritische Nachprüfung nicht möglich, was angesichts der Inhalte mehr als bedauerlich ist. Immerhin gesteht Bosl in diesem inquisitorischen, einem Verhör gleichenden Gespräch einen „Nazispruch“ in einer seiner Publikationen ein und erklärt das angepasste Verhalten vieler Deutscher „mit bürgerlicher Schwäche und Feigheit“. Er erklärt, sichtlich in die Enge getrieben, seine Verstrickungen in das NS-System, bleibt aber dennoch bei der Grundaussage, das er innerlich Gegner des Nationalsozialismus gewesen sei und dies in der Schlussphase des Regimes auch bewiesen habe. Warum Kedar diesen erschütternden Text nicht bereits 1986 oder wenigsten zeitnah veröffentlicht hat, bleibt unerfindlich. Er hätte damit nicht nur Karl Bosl die Möglichkeit zur öffentlichen Stellungnahme gegeben, sondern auch den Schülern die Chance geboten, ihren Lehrer nach den Gründen für sein konformes Verhalten und für sein späteres Schweigen zu befragen. Dies hätte auch der Aufklärung über die Mechanismen der Verführbarkeit in totalitären Systemen mehr gedient als dieser Abdruck nach 25 Jahren. Im Ergebnis hat das Buch von Kedar und Herde den beabsichtigten Zweck mehr als erfüllt. Eine gnadenlose Pressekampagne vollendete den erwünschten „Denkmalsturz“. Patrick Bahners übernahm in einem ganzseitigen Beitrag in der FAZ alle Behauptungen des Buches und spitzte sie noch zu, indem er seinen Artikel mit diesen Worten beendete: „Es muss eine gehörige Kaltblütigkeit dazu gehört haben, dem amerikanischen Offizier Horvay, den der schlecht verhehlte Antisemitismus der Deutschen anwiderte, die Legende zu präsentieren. Der Blutzeuge Limpert zeugte für den Studienrat Bosl, dem er aus dem Grab nicht mehr widersprechen konnte. (FAZ vom 6. Juli 2011 S. N3) Alle anderen Presseorgane folgten der nun gefundenen Grundlinie und schrieben fleissig voneinander ab, ohne noch irgendwelche Fragen zu stellen. Eine abwägende Hörfunksendung des Bayerischen Rundfunks von Thomas Grasberger (BR 2 v. 23.10.2011) wurde angesichts dieses Trommelfeuers und der fragwürdigen Entscheidung der Stadt Cham nicht mehr wahrgenommen. Der Chamer Archivar, der mit einem „Gutachten“ dem Stadtrat die gewünschte Entscheidungsgrundlage zu liefern hatte, folgte dem FAZ-Artikel und dem Buch von Kedar/Herde ohne eigenständige Überlegungen.
Wider die Zerstörung eines Lebenswerkes
Ein Gesamturteil über Karl Bosl darf aber nicht bei einer möglicherweise nur formalen Parteimitgliedschaft und dem opportunistischem Verhalten in jungen Jahren stehen bleiben, sondern muss die gesamte Lebensleistung, die weitaus längere und durchaus herausragende und beispielgebende „zweite Karriere“ in den Blick nehmen, die schon im Oktober 1945 mit dem Abdruck eines Vortrages „Das Wesen des wahren Deutschtums“ (historisch betrachtet) in einer amerikanische Zeitschrift beginnt. Von der ersten Stunde an engagierte er sich im Bereich der Lehrerbildung, als Vorsitzender des Philologenverbandes, als Beauftragter des Kultusministeriums für die neuen Lehrpläne und als Schulbuchautor und -herausgeber. 1953 erhielt er den Ruf auf den Konkordats-Lehrstuhl für mittlere und neuere Geschichte in Würzburg, am 1. Oktober 1960 wechselte er auf den renommierten Lehrstuhl für Bayerische Geschichte in München. Als begeisternder, charismatischer Hochschullehrer und progressiv-innovativer Wissenschaftler öffnete er den Blick der Mittelalterforschung hin zur Gesellschaftsgeschichte und befreite die bayerische Landesgeschichte von ihren etatistischen und monarchistisch-konservativen Traditionssträngen. Führungspositionen in wissenschaftlichen Einrichtungen und an der Universität steigerten sein Ansehen und seinen Einfluss im Wissenschaftsbetrieb. Längst hatte er auch internationale Anerkennung gefunden, durch Mitgliedschaften in angesehenen wissenschaftlichen Akademien in Amerika, Großbritannien und Österreich, und durch ehrenvolle Einladungen und Vortragsreisen nach Italien, Österreich, in die Schweiz, aber auch in die USA, nach Kanada und sogar besonders wirkungsvoll nach Japan, wo sich heute seine gesamte Bibliothek befindet. Diese Weltläufigkeit hinderte ihn aber nicht daran, sich auch intensiv um Land und Leute in Bayern zu kümmern, beim Bemühen um das Haus der Bayerischen Geschichte ebenso wie als Vorsitzender des Verbands der bayerischen Geschichtsvereine. Legendär sind die zahlreichen Auftritte Bosls zu Jubiläen, Ausstellungseröffnungen, Festveranstaltungen etc. Er hat damit seine Forschungen hinausgetragen ins ganze Land und sie in dynamischem Vortrag und mit leidenschaftlicher Emphase zu einem Lernerlebnis werden lassen, das in der Erinnerung vieler Menschen haften geblieben ist und ihn bayernweit zu „dem Bosl“ hat werden lassen, zu einer Institution nicht zuletzt bei den „kleinen Leuten“, auf die es ihm auch wissenschaftlich so sehr ankam. Der fachliche Ertrag dieses großen Forschers und Vermittlers umfasst in nüchternen Zahlen ausgedrückt 59 selbständig verfasste Bücher, 42 von ihm herausgegebene, zum Teil hochbedeutende Werke und 576 Aufsätze und kleinere Beiträge. Sechs Festschriften sind für ihn verfasst worden, über 200 Doktoranden haben unter seiner Anleitung promoviert, mehr als 20 Habilitationen kamen dazu. Mit Ehrungen und Auszeichnungen reichlich bedacht, ist er am 18. Januar 1993 in höchstem Ansehen gestorben und wenige Tage später am Friedhof zu Neukirchen bei Weyarn bestattet worden. Seinen Sterbezettel ziert ein Holzschnitt von Heinrich Pospiech mit der Abbildung einer Mater dolorosa. Als „Barockmensch und Altmeister der Geschichte Bayerns“ rühmte ihn damals der Münchner Merkur, und der Erste Bürgermeister von Cham versicherte am Grab: „Lieber Ehrenbürger Prof. Dr. Karl Bosl, wir sind stolz auf Sie und werden Ihr Andenken stets in Ehren halten.“ Angesichts der geschilderten Gesamtbilanz kann man sich daher nur Werner K. Blessing anschließen, der in seiner Rede zum 100. Geburtstag Karl Bosls gesagt hat: „Das Urteil so vieler Institutionen, so zahlreicher Wissenschaftler kann nicht irrig sein; ihm gegenüber bewirkt die eifrige Enthüllung einstiger Anpassungen nicht mehr allzu viel.“ (Blessing S. 916) Leider hat sich Blessings zweite Annahme nicht bewahrheitet. Ein „ investigativer Furor“ (Blessing S. 914) hat Karl Bosl die Ehre genommen und mit der Verurteilung seiner Person zugleich Gericht gehalten über eine ganze Generation. Der renommierte Mittelalterhistoriker Matthias Werner hat vor diesem Vorgehen zurecht gewarnt: „Pauschalurteile über eine ganze Disziplin und deren Vertreter fördern weder die Erkenntnis noch werden sie – gerade in Verbindung mit den beanspruchten moralischen Kategorien – der Verantwortung gegenüber einem derart sensiblen und insgesamt noch zu wenig erforschten Thema gerecht.“ (Werner S. 327) Es ist nicht die Aufgabe des Historikers zu richten. Er muss sich vielmehr bemühen, zu verstehen, zu erklären und dann abwägend zu urteilen, „sine ira et studio“, ohne persönliche Voreingenommenheit und ohne vorgefasste Meinung. Mit dieser wissenschaftlichen Maxime sollten auch Leben und Werk Karl Bosls betrachtet und bewertet werden, ohne Beschönigung, aber auch frei von voreiligen Schuldzuweisungen.
Manfred Treml
Manfred Treml hat 1976 bei Karl Bosl promoviert und ist seit 1990 sein Nachfolger als 1. Vorsitzender des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine
Literaturhinweise:
Berg, Matthias
Lehrjahre eines Historikers. Karl Bosl im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1/2001, S.45-63
Blessing, Werner K.
Karl Bosl im Blick eines Schülers. Erinnerungen zum 100. Geburtstag, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 72 (2009), S. 893-916
Herde, Peter
Michael Seidlmayer (1902-1961) und der Neubeginn der Würzburger Mediävistik nach 1945, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 69 (2007), S. 205-260
Kedar, Benjamin Z. / Herde, Peter
A Bavarian Historian Reinvents Himself: Karl Bosl an the Third Reich, Jerusalem 2011
Kramer, Ferdinand
Der Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte von 1917 bis 1977, in: Im Dienst der bayerischen Geschichte. 70 Jahre Kommission für bayerische Landesgeschichte. 50 Jahre Institut für Bayerische Geschichte, München 1998, S. 351-406
Nagel, Anne Christine
Im Schatten des Dritten Reiches. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970, Göttingen 2005
Treml, Manfred (Red.)
Karl Bosl. Eine Bibliografie. Hrsg. vom Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg 1996
Werner, Matthias
Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer, Ostfildern 2005, S. 251-364